„Gedankliche Vorgriffe auf eine menschenwürdige Zukunft“

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Es herrschte absolute Stille, als Brigitte und Manfred Vorholt ihren Filmbeitrag über den Besuch im Konzentrationslager Auschwitz zeigten und Michael Kuntze auf seiner Geige dazu die Musik von Schindlers Liste intonierte. Die Ergriffenheit des Publikums war deutlich spürbar.

Im Mittelpunkt der Feier zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus stand in diesem Jahr das historisch-politischen Lernen in Gedenkstätten. Dabei ging es insbesondere um die Frage, welchen Beitrag Gedenkstättenfahrten für eine lebendige Erinnerungskultur leisten können.

Auf Spurensuche in Riga 

Bürgermeister Werner Arndt berichtete zur Eröffnung von einer Reise nach Riga in Lettland, wo im Wald von Bikernieki bei Massenerschießungen mehr als 30.000 Juden ermordet wurden. Arndt hatte acht Jugendliche aus Marl begleitet, die sich auf die Spuren der Marler Jüdinnen und Juden begeben hatten, die während der NS-Diktatur nach Riga deportiert worden waren. Darunter war auch die Familie Abrahamsohn, deren Sohn Rolf als einziger überlebte.
 

Mitgefühl als wichtiges Moment der Erinnerungsarbeit 

Bei jeder Etappe der Reise, so Arndt, sei das Mitgefühl für die Menschen gewachsen, die hier und andernorts Opfer der rassistischen Ideologien des Nazi-Regimes wurden. Für ihn ist „die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, eines der wichtigsten Momente von Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit“. Arndt: „Wenn es uns gelingt, Empathie ebenso für unsere Mitmenschen zu entwickeln, ihre Gefühle, ihre Religion und ihre Überzeugungen wertzuschätzen, dann begegnen wir einander mit Verständnis und Respekt und als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft“. Dann, so Arndt, „widerstehen wir auch den rechtspopulistischen Ideologen, die uns den Kopf verdrehen und unser Herz vergiften wollen, um rassistische Vorurteile wieder salonfähig machen“.

Antidiskriminierende Wirkung 

Gastredner Michael Sturm, wissenschaftlicher Mitarbeiter vom Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, zeigte unter dem Titel „Nie wieder – aber wie?“ Möglichkeiten und Grenzen des historisch-politischen Lernens in Gedenkstätten auf. Gedenkstättenbesuche könnten insbesondere dann eine antidiskriminierende Wirkung entfalten, wenn sie Räume für Gespräche und Bezüge zur aktuellen Lebenswelt der Besucherinnen und Besucher eröffnen, Entstehungszusammenhänge erhellen und die Veränderbarkeit von Geschichte erlebbar machen. So könnten völkische und nationalistische Weltbilder kritisch reflektiert und „gedankliche Vorgriffe auf eine menschenwürdige Zukunft“ ermöglicht werden.  

Gedichte gegen das Vergessen

Ergänzt wurde der Vortrag von Gedichten der Autorin und Holocaust-Überlebenden Halina Birenbaum (88), die gemeinsam mit ihrer Enkelin Yael aus Marls israelischer Partnerstadt Herzliya angereist war. Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig zu Gast und berichtet insbesondere Jugendlichen von ihren Erfahrungen in der NS-Zeit. Cengiz Caliskan, Vorsitzender des Integrationsrates, sprach das Schlusswort.  

Ökumenischer Gottesdienst zum Auftakt 

Musikalisches begleitet wurde die Gedenkfeier vom Worship Projekt Marl, der Leistungskurs Geschichte des Gymnasiums im Loekamp zeigte eine Ausstellung im Foyer des Rathauses. Die Moderation hatte Jennifer Radscheid, in der Stadtverwaltung zuständig für das Thema Erinnerungsarbeit. Vor der Veranstaltung hatten die Pfarrer Ulrich Walter und Herbert Roth gemeinsam einen ökumenischen Gottesdienst gestaltet.

Der 27. Januar wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus bestimmt. Er erinnert an den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Sowjet-Armee 1945.

 

 

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Tiefe Ergriffenheit rief das Video von Brigitte und Manfred Vorholt von einem Besuch im KZ Auschwitz hervor.

Über das politisch-historische Lernen in Gedenkstätten sprach Michael Sturm (l.). Bürgermeister Werner Arndt erinnerte an eine Spurensuche in Riga, Halina Birenbaum trug einige ihrer Gedicht vor.