Sie wurde von Anfang an als Gemeinschaftssausstellung geplant, bestehend aus vier Teilen mit der Darstellung der Zuwanderungsgeschichte von drei ethnischen Gruppen und der, die durch einen Großkonzern hervorgerufen wurde. Nach zweijähriger Vorbereitung durch eine Projektgruppe wurde sie schließlich vom 22.Mai bis 13.Juni 2010 in der ehemaligen Fördermaschinenhalle der Zeche Auguste Victoria Schacht 1/ 2 in Marl realisiert. Die Ausstellungseröffnung und auch das umfangreiche Begleitprogramm fanden im Rahmen von SchachtZeichen statt, einem ebenfalls ruhrgebietsweiten Großprojekt von RUHR.2010.
Die Federführung des Projektes hatte die insel, Volkshochschule der Stadt Marl (Dr. Renate Strauch, Dr. Fritz Rieß). Zur Projektgruppe gehörten zunächst die Verantwortlichen der vier Ausstellungsteile:
- Nevin Toy-Unkel und Gülsün Subayi, die insel-VHS und AWO: Rückkehr im Gepäck, Türkische Migranten im Vest
- Thomas Ridder, Jüdisches Museum Westfalen in Dorsten: Jüdische Einwanderungen in das Ruhrrevier
- Dr. Hans-Ulrich Berendes und Vladimir Marek, Evonik Industries AG, Konzernarchiv Standort Marl: Industrie und Zuwanderung in Marl am Beispiel des Chemieparkes Marl
- Herbert Somplatzki , Ausstellung „Ost-West-Begegnungen in Krieg und Frieden" Westpreußisches Landesmuseum).
Die Ausstellung, so der Wunsch der Projektgruppe, sollte in der ehemaligen Fördermaschinenhalle der Zeche Auguste Victoria Schacht 1/2 realisiert werden, weil sie der einzig richtige und damals noch denkmalverdächtige Ort war. Außerdem konnte nur sie als historischer Ort und Symbol für den Beginn der Zuwanderung in Marl nicht nur die Ausstellung beherbergen, sondern selbst ein Stück der Ausstellung sein. Das konnte nur mit Unterstützung der RAG erreicht werden, was schließlich auch gelang. An dieser Stelle sei dafür noch mal herzlich gedankt, besonders dem Ausbildungsleiter Dirk Riedel, der schließlich zu unserer Projektgruppe stieß, mit seinen Auszubis immer hilfsbereit zur Verfügung stand, die seit langem leerstehende Halle herrichtete, Strom und Wasser besorgte usw.usw.usw. Weil die ehemalige Fördermaschinenhalle in Marl-Hüls liegt, engagierte sich natürlich auch die Bevölkerung. Stellvertretend sei hier besonders Susanne Bee von Hüls zieht an e.V. genannt, die sich stark machte für besondere Highlights im Begleitprogramm, für die Beleuchtung und Dekoration der Halle, für die gesamte Organisation von Bewachung und Aufsicht während der Öffnungszeiten usw.usw.usw. Ähnlich wie bei dem RUHR.2010 Großprojekt SchachtZeichen wurden auch bei unserem Ausstellungsprojekt viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer eingebunden, denen an dieser Stelle auch besonders gedankt sei.
Die Ausstellung und besonders die Ausstellungseröffnung mit mehr als 500 Gästen bei strahlendem Wetter am Pfingstsonntag 2010 war ein voller Erfolg. Die farbig illuminierte Fördermaschinenhalle als NachtZeichen eine Woche später war von berauschender Schönheit und der Wunsch, sie als Industriedenkmal zu erhalten allgegenwärtig. Die Diskussionen mit den Gästen bestätigten das Empfinden der Projektgruppe: Das Zuwanderungsthema ist sehr spannend, wenig untersucht und für Marl von grundlegender Bedeutung. Der Grundstein wurde mit der Ausstellung und den begleitenden Vorträgen gelegt, die in diesem Dokumentationsband ebenso dargestellt werden wie die Ergebnisse von SchachtZeichen. Jetzt kommt es darauf an, diesen roten Faden aufzugreifen und die Geschichte weiter zu schreiben.
Kleiner Historischer Exkurs:
Mit der Lippezone, die innerhalb des Vests liegt, erreichte der Bergbau des Ruhrgebietes Ende des 19 Jh. seine nord-östlichste Ausdehnung. Möglich wurde diese Nordwanderung aber nur durch Zuwanderung, weil die vorhandene Bevölkerung die damit verbundene Arbeit niemals hätte alleine bewältigen können. Das gilt besonders für das Vest, wie die Gegend um Marl und Recklinghausen von alters her heißt, das durch Zuwanderung erst zu dem werden konnte, was es im 20.Jh. war und heute ist. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg erschloss man hier zahlreiche Flöze durch unterirdische Anschlussbergwerke, bei denen untertage die Transportwege ("Strecken") der Emscherzechen bis in die Lippezone verlängert wurden. So konnte die abgebaute Kohle unterirdisch zu den bisherigen Förderanlagen transportiert und die Landschaft erhalten werden. Das Gesicht der Lippezone ist deshalb nicht so stark vom Bergbau geprägt. Doch auch kostensparende Innovationen wie das Konzept der Anschlussbergwerke konnten eines nicht ändern: Kohle aus dem nördlichen Ruhrgebiet kommt aus großer Tiefe und ihre Förderung ist somit teurer als etwa die der nordamerikanischen Kohle, deren mächtige Flöze im Tagebau erschlossen werden können.
Suche nach Arbeit und Brot
Ende des 19.Jahrhunderts kamen mit dem Bergbau viele Menschen auf der Suche nach Arbeit und Brot auch ins Vest, das bis dahin anders als die Hellwegzone (das städtisch geprägte Gebiet in und um Dortmund, Essen, Duisburg, Mühlheim a.d.R. etc.) überwiegend landwirtschaftlich geprägt war. Die magere Heidelandschaft führte nicht zu guten Ernteerträgen, eignete sich oft nur für die Schafzucht und war deshalb nur dünn (es gab mehr Schafe als Menschen!), überwiegend dörflich besiedelt. Die bäuerliche Gesellschaft war ebenfalls anders als in der Hellwegzone relativ homogen und, abgesehen von sehr wenigen reichen Bauernfamilien, arm und kaum sozial geschichtet. Die armen Bauern oder Kötter waren natürlich die ersten, die Bergleute wurden, so wie sie vorher in Heimarbeit für Manufakturen Leinen gewebt hatten. Als Arbeiter konnten sie ihre Familien besser ernähren, besonders weil sie die bergbauliche Tätigkeit anfangs nur saisonal betrieben und die bäuerliche Arbeit für den Eigenbedarf (Subsistenzwirtschaft) weiter von den Frauen und Kindern aufrecht erhalten wurde. Die zahlreichen Fachleute, die im Bergbau benötigt wurden, kamen allerdings nicht aus der Region und fanden im Vest keine gesellschaftlich adäquaten Gruppierungen, die ihnen eine sofortige Integration ermöglichen konnte. In der Hellwegzone hatte diese milieubedingte Eingliederung noch selbstverständlich funktioniert, bis hinein in Heiratskreise.
In einem bäuerlich zerstreuten Siedlungsraum, der für das Vest typisch war, ist die einheimische Bevölkerung normalerweise sehr traditionsgebunden. Zudem war sie hier kaum durch vorindustrielle Techniknutzung, die für die Hellwegzone typisch war, gefordert worden und konnte ein einfaches, durch wenige Veränderungen geprägtes und von Religion und Tradition geregeltes Leben führen. Mit der Industrialisierung, die im Vest ca. 100 Jahre später als in der Hellwegzone einsetzte, änderte sich das rasant. Neue, spezielle Anforderungen an die Menschen, wie z.B. gesteigerte Anpassungsbereitschaft und Lernfähigkeit, mussten von ihnen durchlebt und erworben werden. Andererseits mussten die großen Zuwanderungswellen, die aus Arbeitskräftemangel immer wieder aufs Neue auf sie zukamen, verkraftet werden. Zwei Herausforderungen, die wegen des kurzen Zeitraums und wegen der Menge gewaltig waren und die zusätzlich zu der erbrachten industriellen Arbeit eine herausragende Leistung darstellen.
Integration
1910, nur gut 10 Jahre nach der Ankunft des Bergbaus durch die Gründung der Zeche Auguste Victoria auf heutigem Marler Stadtgebiet, gab es im Amt Marl ca. 86% Zugewanderte, also von 100 Menschen waren nur 14 Einheimische. Für die westfälische Bevölkerung unserer Region kann man durchaus von einer Überfremdung sprechen, die sie sich nicht immer gefallen lassen wollte. Das Gefühl von Fremdheit auf der einen und von Überfremdung auf der anderen Seite muss sehr ausgeprägt gewesen sein. Mit der Gründung der Chemischen Werke Hüls 1938 zog neben dem Bergbau ein neuer industrieller Gigant Menschen als Arbeitskräfte an, diesmal mehr Fachleute als Arbeiter sowie viele Chemiker und andere akademisch ausgebildete Personen. Nach dem 2. Weltkrieg kam eine große Welle von Flüchtlingen und Vertriebenen ins Vest und auch nach Marl. Auch sie musste verkraftet werden. Man kann also davon ausgehen, dass sich das Verhältnis in Marl nicht wesentlich änderte und die Zugewandertenquote um 80% pendelte. In nur 100 Jahren wurden also rund 80% der heute in Marl lebenden Bevölkerung friedlich integriert, eine soziale Leistung von Seiten der Einheimischen und der Zugewanderten, deren sie sich nicht bewusst sind und auf die sie deshalb auch nicht stolz sein können. Damit wird ein wichtiger Beitrag der hiesigen Menschen, der Teil ihrer Geschichte ist, für die eigene Identität nicht genutzt. So bleibt es lediglich ein großes Kapital, das überwiegend brach liegt.
Alltagskultur
Zuwanderung bedeutet Vielfalt und Vielfalt, so lehrt uns die Evolution, sichert das Überleben. Mit dem ihr eigenen Lebenswillen prägte sie neben der industriellen Entwicklung selbst unsere Region und veränderte das Ruhrgebiet zum Revier, oder besser gesagt zum Kohlenpott. Dieser hatte sogar die Kraft, eine eigene Sprache (Dialekt) zu schaffen und eine Alltagskultur, die man in anderen Gegenden Deutschlands nicht findet. Marl und Umgebung, hauptsächlich aus Heidedörfern und kleinen Städten bestehend, ist durch ankommende Menschen besonders geprägt. Die vielen verschiedenen Facetten von Zuwanderung sind bisher für unsere Stadt nicht zusammenfassend dargestellt worden. Ohne bewerten zu wollen, kann man allerdings mit Sicherheit sagen, dass Marl ohne dieses Phänomen in 115 Jahren nicht die Stadt geworden wäre, die sie heute ist. Wir möchten deshalb Marl als Prototypen betrachten für die Entwicklung eines bäuerlich zerstreuten Siedlungsraumes in einen hochindustriell geprägten, wobei die dazugehörige städtische Durchmischung eher Wunsch als Realität ist. Zuwanderung ist dabei das Basismerkmal, das alle Lebensbereiche durchzieht, die wirtschaftlichen, die sozialen, die gesellschaftlich-kulturellen und die politischen.
Ausblick: Wie geht's weiter?
Die Ausstellung „Im Vest angekommen!?" war in vielerlei Hinsicht erfolgreich. Sie war ganztägig geöffnet, wurde samt Begleitprogramm an dem ungewöhnlichen Ort gut besucht und von zwei auf drei Wochen verlängert. Das wurde ebenfalls gut besucht und führte zu interessanten Diskussionen. Über das Thema Zuwanderung und seine Bedeutung für Marl wurde in der Stadt gesprochen. Die Projektgruppe selbst hatte durch die Arbeit sehr viel über das Vest und besonders über Marl gelernt. Sie war der Meinung, dass an dem Thema weitergearbeitet werden sollte. Also wurde nach Möglichkeiten gesucht und zwei Wege wurden eingeschlagen.
1. 75 JAHRE STADT MARL - EINE STADT SUCHT IHRE IDENTITÄT
Die Marler Geschichtswerkstatt:
Sie ist seit 10 Jahren ein Arbeitskreis der insel-Volkshochschule in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein Marl, trifft sich einmal im Monat und wird von Dr. Berendes, der auch maßgeblich an der Ausstellung beteiligt war, geleitet. Von den Mitgliedern wurden bereits verschiedene Texte zur Geschichte von Marl erarbeitet und auf der städtischen Internetseite www.marl.de/stadtgeschichte veröffentlicht. Sie war bereit, an dem Thema Zuwanderung weiter zu arbeiten und gründete 3 Arbeitsgruppen:
1. Zuwanderung und Politik, Koordination Herr Manfred Degen, MdL a.D.
2. Zuwanderung und Religion, Koordination Frau Angelika Müller, MA
3. Zuwanderung und Siedlung, Koordination Herr Gregor Husmann, MA
Die ersten Ergebnisse wurden bereits in einer Ausstellung auf dem Stadtfest am 16./17.7.2011 vorgestellt und sollen unter dem Titel: GES(ch)ICHTSPUNKTE:Mach Dir ein VESTes Bild von Marl. Im nächsten Jahr veröffentlicht werden.
2. IN MARL ANGEKOMMEN?!
Die Biografieforschungsgruppe
Ein in Arbeitsgemeinschafts-Form konzipiertes Projekt über die Migrationsgeschichte der Stadt Marl als Beitrag zum Stadtjubiläum „75 Jahre Stadt Marl" mit den gymnasialen Oberstufen der Marler Schulen (Albert Schweitzer/Geschwister Scholl- Gymnasium, Gymnasium im Loekamp, Willy-Brandt- Gesamtschule). Das Projekt ist inhaltlich arbeitsteilig und produktorientiert konzipiert und bindet etwa 100 Schüler/innen ein, die gemäß der Unterrichtsmethode Projektarbeit in vielerlei Hinsicht eigenverantwortlich auch neben der eigentlichen Unterrichtszeit arbeiten. Die Lehrkräfte stehen ihnen in Fragen der Konzeption, der Recherche und Umsetzung beratend zur Seite.
Zuwanderung, die Marl ab ca. 1900 auszeichnet, wird mit der Biografischen Methode (Forschendes Lernen) untersucht. Durch diese erfahrungs- und handlungsorientierte Methode erhalten die Schüler/innen die Gelegenheit, das Thema Migration in Verbindung mit Marl von verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, sowie sich mit ihren jeweiligen individuellen Interessen und Fähigkeiten einzubringen.
Bei den verschiedenen Schwerpunkten sollen einzelne Produkte entstehen, die sich auch separat präsentieren lassen, z.B. im Rahmen des Stadtjubiläums am 16./17. Juli 2011. Anschließend ist die Zusammenstellung aller Ergebnisse in einem „Gesamtprodukt" geplant. Aufgrund der vorhandenen Strukturierung ist das machbar und die Schülerinnen und Schüler werden ihre jeweiligen Beiträge sowie das Projekt als Ganzes, also als Buch, auch (gewürdigt) sehen können.
Weitere Infos unter Telefon (02365) 99-4299