"Ich habe oft Albträume"
Er ist gebürtiger Marler und der letzte Überlebende des Rigaer Ghettos in Nordrhein-Westfalen. „Ich kann nicht verdrängen, erinnere mich an jedes Detail. Deshalb habe ich oft Albträume“, gibt der 90-Jährige zu, der von 1978 bis 1992 Vorsitzender der heutigen jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen war. Die Bilder verfolgen ihn bis heute, auch 70 Jahre nach seiner Befreiung durch die Rote Armee im KZ Theresienstadt im heutigen Tschechien.
Auf Spurensuche der Familie Abrahamsohn
Obwohl er gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde, beantwortet er im Rathaus die Fragen von Nils Springstubbe, Alexandra Chmiel, Jonas Küting, Jan-Stefan Heinemann und Ramon Lelek. Die fünf Jugendlichen sind Schülerinnen und Schüler der Willy-Brandt-Gesamtschule sowie des Hans-Böckler-Berufskollegs und haben sich im vergangenen Oktober gemeinsam mit Bürgermeister Werner Arndt auf Spurensuche der Familie Abrahamsohn in die lettischen Hauptstadt Riga begeben. Ihre Besuche des ehemaligen Ghettos, einer Gedenkstätte im Bikernieki-Wald und am Bahnhof Skirotava haben die Jugendlichen mit zahlreichen Fotos und Videos dokumentiert. Daraus sind ein kurzer Dokumentarfilm und eine Postkartenreihe entstanden, die sie beim Auschwitz-Gedenktag am 27. Januar vorgestellt haben.
"Wir dürfen niemals vergessen. Deshalb müssen wir zuhören."
Rolf Abrahamsohn war damals so begeistert von dem Engagement der jungen Leute, dass er sie spontan zu einem Gespräch eingeladen hat. Bürgermeister Werner Arndt ermöglichte dieses Aufeinandertreffen gerne, denn „wir dürfen niemals vergessen. Diese Zeit darf sich nicht wiederholen. Und darum müssen wir zuhören“, sagt das Stadtoberhaupt.
Im Januar 1942 nach Riga transportiert
Im Beisein von Bürgermeister Werner Arndt und der städtischen Integrationsbeauftragten Jennifer Radscheid berichtete Rolf Abrahamsohn jetzt von dem Leid, das ihm im Rigaer Ghetto sowie im KZ Riga-Kaiserwald – und vier weiteren KZs – widerfahren ist. Im Januar 1942 wurde er gemeinsam mit seiner Mutter sowie 213 weiteren Recklinghäuser Juden nach Riga transportiert. „Bis heute bin ich nicht dorthin zurückgekehrt, habe auch die Gedenkstätte nicht besichtigt“, berichtet Abrahamsohn mit einer gewissen Verbitterung in der Stimme. Als Nils Springstubbe von ihm wissen möchte: „Was würden Sie heute einen SS-Mann fragen?“, antwortet er: „Ich würde ihn fragen, wie er überhaupt leben kann – mit so viel Schuld auf den Schultern.“
"Denn ich habe überlebt."
Die Schüler sind dankbar für das offene Gespräch. „Es war sehr bewegend“, sagt Alexandra Chmiel. Bald können sie und ihre Altersgenossen keine Zeitzeugen mehr befragen. Und das ist auch der Grund, warum sich Rolf Abrahamsohn – obwohl die Knochen schmerzen – auf den Weg ins Marler Rathaus gemacht hat. „Denn ich habe überlebt“, sagt er – als sei es seine Verpflichtung, von seinem Leben zu erzählen. Auf seine „Gage“ besteht er dennoch: „Zwei Flaschen Selter-Wasser, bitte!“, bestellt er verschmitzt lächelnd.